Donnerstag, 15. Oktober 2015

GEDULDSFÄDEN

Es wurde uns viel abverlangt in diesem Sommer: Die Schüler der Mittelschule, die Volkshochschule und viele andere Sportsfreunde wollen nun endlich ihre Turnhalle wieder nutzen. Die Nachbarn in der Kagerbauer- und Johann-Bader-Straße wünschen sich ihre Nachtruhe zurück, wodurch sich hoffentlich auch die Immobilienwerte wieder stabilisieren dürften. Die Fußball-Abteilung des SV Pullach möchte wieder unter sich sein und nicht als Sozialstation für Flüchtlinge dienen. War nicht versprochen worden, dass die Notunterkunft in der Halle der Mittelschule längstens bis Mitte August genutzt werden wird? Wir haben nun doch lange genug Großmut bewiesen und mit diesen Fremdlingen unser schönes Pullach geteilt! Wie lange wurde unsere Geduld beansprucht!

Treten wir durch die Glastür der Turnhalle, eröffnet sich eine andere Perspektive: Dort teilten sich nun fast 5 Monate lang zwischen 50 und 100 junge Männer einen einzigen Raum, ein paar wenige Duschen und Toiletten. Durch zurechtgerückte Spinde, aufgetürmte Koffer und herunterhängende Bettlaken haben sie versucht, sich einen Hauch von Privatsphäre zu schaffen. Stellen wir uns das einmal vor! Fast alle sind jung und kräftig, aber haben nichts zu tun, weil sie nicht arbeiten dürfen. Dadurch sind sie zum Teil quälenden Erinnerungen ausgesetzt, die traurig, aber auch aggressiv machen können. So versucht jeder, mit seiner Not zurechtzukommen. Der eine trinkt, der andere hört laut Musik, der dritte kommt auf die Idee, nachts mit dem Skateboard durch die Halle zu fahren. Jedes Geräusch ist für alle hörbar. Keiner findet Nachtruhe. Bei Auseinandersetzungen gibt es keine gemeinsame “Flüchtlingssprache“. Ist das nicht zum Verrücktwerden?
Da nimmt es nicht Wunder, dass es schon ein paar „Revolten“ gab: „Wir halten es hier nicht mehr aus!“
Tatsächlich aber ist es das größere Wunder, dass nie etwas Schwerwiegendes geschehen ist. „Wir alle sind hier Freunde, egal aus welchem Land wir kommen“, so ist öfters zu hören. Was für eine soziale Leistung! Die Geduldsfäden werden scheinbar immer wieder neu geknüpft.

Nun geht diese Periode zu Ende. Die Verlegung in die Traglufthalle in Oberhaching steht unmittelbar bevor. Was für manche Pullacher Bürger Erleichterung bedeuten dürfte, ist für andere ein schmerzhafter Abschied. Man höre: Unsere Flüchtlinge wollen hier bleiben, sie lieben Pullach! Sie haben angefangen, Kontakte zu knüpfen, Freundschaften zu pflegen, Vertrauen zu gewinnen und kleine Wurzeln zu schlagen. „Hier wurden wir seit langem zum ersten Mal als Menschen gesehen.“ „Wir haben Pullach adoptiert.“ „Wir wollen jetzt nicht wieder bei Null anfangen.“ „Wir sind verzweifelt.“
Denn ob sie in der Traglufthalle die versprochene Verbesserung der Wohnqualität erwartet, ist fraglich. Sechs Personen werden in jeweils einer „Box“ untergebracht sein – auf engstem Raum und weiterhin ohne akustische Trennung. Die Lage in der Gewerbezone von Oberhaching dürfte zudem das Hineinwachsen in einen neuen Lebensmittelpunkt sehr erschweren. „Es fühlt sich an wie Gefängnis“, so haben sich Mitglieder des Helferkreises nach einer Besichtigung geäußert.
Der Geduldsfaden ist äußerst angespannt. Trotzdem sehen die meisten Flüchtlinge ein, dass ihnen nichts anderes bleibt als sich in die Sachzwänge und ihr Schicksal zu fügen.

Jedoch nicht nur ihnen fällt der bevorstehende Abschied schwer. Da sind die zahlreichen unermüdlichen Helfer, die Deutschunterricht gegeben, Ausflüge und Feste organisiert, Arbeit, Schulplätze und Sprachkurse vermittelt, Sportbegegnungen ermöglicht, Kleiderspenden besorgt, Arzt- und Amtsbesuche begleitet, nach Hause eingeladen oder einfach nur zugehört haben. Dadurch konnte vielleicht Schlimmes verhütet werden, denn einige der Turnhallenbewohner hatten in den ersten Wochen Suizidgedanken.
Ja, uns allen war viel von dem abverlangt, was eigentlich Aufgabe des Staates sein sollte und in anderen Bundesländern auch schon von staatlichen Stellen übernommen wird.
Aber mehr: Wir haben unsere Schützlinge aus tiefstem Herzen lieb gewonnen! Der Transfer nach Oberhaching fühlt sich an wie eine kleine „Abschiebung“ und stimmt uns traurig. Das bange Warten auf den konkreten Termin, die vergeblichen Versuche, doch noch eine Unterkunftsalternative in Pullach zu finden, all das hat auch unsere Geduldsfäden zum Zerreißen strapaziert. Wir sind erschöpft, und es ist bitter, sich nun so völlig machtlos zu fühlen.

Wie alles weitergeht? Neue Flüchtlinge werden nach Pullach kommen. Die menschliche Herausforderung wird nicht nachlassen. Für die meisten von uns Helfern steht fest: Menschen sind nicht austauschbar. Wir halten es für notwendig, „unsere“ Jungs auch in Oberhaching weiter zu begleiten, soweit das möglich ist. Uns in selber Weise den Neuankömmlingen zu widmen, wird uns schwer fallen.
Liebe Pullacherinnen und Pullacher, Sie können helfen, indem Sie eventuell freistehenden Wohnraum dem Landratsamt zur Anmietung zur Verfügung stellen. Dann könnten unsere schon gut integrierten Flüchtlinge in ihr geliebtes Pullach zurückkehren.

Denn es wird nicht ausbleiben, dass wir etwas enger zusammenrücken und uns an Fremde gewöhnen müssen. Der Strom wird nicht abreißen, solange Deutschland Waffen in alle Welt liefert, mit denen die Häuser der späteren Flüchtlinge in Schutt und Asche geschossen werden und solange Klimawandel und Handelsabkommen die wirtschaftlichen Strukturen in den Herkunftsländern so zerstören, dass Menschen es vorziehen, ihre Heimat zu verlassen und durch die Wüste Richtung Europa zu irren.
Wir sind eine Welt, in der alles mit allem zusammenhängt. Bertolt Brecht hat es 1934 so formuliert:
             Reicher Mann und armer Mann
             standen da und sah`n sich an.
             Und der Arme sagte bleich:
             „Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“

Wappnen wir uns also mit Geduld,  lassen wir uns weiter von unserem Mitgefühl leiten! Dann schaffen wir das.

Hedwig Rost

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